Eine
Kultur- und
Genussgeschichte über die
himmlischste Süßigkeit der
Erde
Auszug aus dem Vortrag Von
Wiebke Eden
„Niemand wird es
leugnen: Wenn unsere
Geschmacksnerven
betörende Erregung,
dramatisches Geschehen
und süße Befriedigung
suchen, dann greifen wir
nicht zur Kartoffel und
auch nicht zu
Preiselbeeren. Wir essen
Schokolade.“
Lorna Sass,
amerikanische Autorin.
Als ich an meinem ersten
Roman schrieb, suchten
meine Geschmacksnerven
öfter betörende Erregung.
Dann ging ich zum
Supermarkt um die Ecke und
kaufte Schokolade: eine
Trauben-Nuss-Tafel oder
einen Schokoriegel,
Schoko-Mandelsplitter oder
einen Pudding. Wählerisch
war ich nicht eigentlich.
Schokolade half beim
Ersinnen der Geschichte,
ihrer Figuren und Szenen,
sie half beim Tüfteln an
Sätzen, bei der Auswahl
der Wörter. Sie half bei
Kopfschmerzen und
Schwermut, sie unterstrich
Glücksgefühle – bis ich
das Sitzen nicht mehr
aushielt, das viele
Schreiben, und mir einen
Nebenjob suchte. Einen,
der mich vom Grübeln
abhielt und mir
Sinnlichkeit in den
Arbeitsalltag brachte.
Ich wusste, welchen Job
ich wollte. Einmal war ich
in Berlin-Schöneberg an
einem Laden
vorbeigekommen, der meine
Aufmerksamkeit erregte. Es
war ein Laden, in dem es
aussah wie vor hundert
Jahren: Regale, Fächer,
Schubläden und Tresen aus
dunklem Eichenholz.
Porzellanschüsseln und
Silberschalen mit bunten
Päckchen und Tüten. Ein
Spiegel, Marmortische.
Beim Eintreten duftete es
nach Kaffee, den es im
Ausschank gab, und nach
Schokolade. Es war ein
Laden für internationale
Süßwaren. Die Ausstattung,
so erzählte mir die Chefin
später, war von 1903 und
gehörte früher zu einem
Tabakladen. Statt aus
Zigaretten und
Pfeifenputzern bestand das
Sortiment jetzt aus dem,
was Naschkatzenherzen in
aller Welt begehren:
Trüffel aus Frankreich,
Nougat aus Italien,
Toffees aus England, Halva
aus Griechenland, Lakritze
aus Finnland,
Erdnussriegel aus Amerika,
Ingwerbonbons aus
Indonesien. Und vor allem
Schokolade. In großen und
kleinen Portionen, in
Folien und Schachteln, in
fester und flüssiger Form.
Als ich das nächste Mal
an dem Laden vorbei kam,
fragte ich nach einem
Aushilfsjob. Die Chefin
bat darum, zu einem
späteren Zeitpunkt noch
einmal nachzufragen, was
ich tat. Diesmal trat ich
dem Chef, dem
Lebensgefährten der
Chefin, gegenüber, er
notierte sich meinen Namen
und meine Telefonnummer,
es vergingen Monate, und
eines Tages hatte ich eine
Nachricht von ihm auf
meinem Anrufbeantworter.
Ob ich noch Interesse
hätte, fragte der Chef und
ich rief augenblicklich
zurück.
Zwar begann ich meine
Tätigkeit nicht in dem
Laden in Schöneberg,
sondern in der Filiale in
Zehlendorf. Doch auch die
hatte ihren Charme, war in
einem Bahnhofsgebäude im
Jugendstil untergebracht,
einem wunderschönen
Kuppelbau, in dem sich
außerdem eine Bäckerei,
Fleischerei, ein Kiosk und
ein Obst- und
Gemüsehändler befanden.
Fortan stand ich also
ein- bis zweimal in der
Woche hinterm
Verkaufstresen und
versuchte den Appetit der
Bewohner Zehlendorfs auf
Süßes zu wecken. Ich war
bezaubert. Hatte von
morgens bis abends die
Versuchung in all ihren
Ausprägungen um mich,
kokettierend in
knisternder Verpackung,
und ich widerstand nicht.
Jedes Mal, wenn ich Dienst
tat, nahm ich mindestens
eine Spezialität zu mir:
ein Mandelgebäckstückchen,
ein Nougatherz, ein
Karamellbonbon. Mal hatte
ich von dem einen genug,
mal von dem anderen. Nie
war ich der Schokolade
überdrüssig. Nie hätte ich
nicht zugreifen können. Im
Gegenteil, je vorsichtiger
ich sie kostete, desto
mehr gab ich mich ihr hin.
Den Kunden ging es nicht
anders. Sie kauften
Ingwerstäbchen, Marzipan,
Pfefferminzdrops, doch vor
allem kauften sie
Schokolade. Dunkle, helle,
mit Mandeln, Nüssen,
Orangenstückchen. Es war
qualitativ hochwertige
Schokolade mit erlesenen
Zutaten.
Oft bezahlten die Kunden
mit einem Funkeln in den
Augen. Und ich, die vom
Schreibtisch geflohen war,
um den Kopf auszuschalten,
grübelte erneut. Ich
begann Bücher zu lesen und
im Internet zu forschen,
um Antwort zu finden auf
die Frage:
Was macht die Magie von
Schokolade aus, was ihre
elektrisierende Wirkung,
ihren unwiderstehlichen
Charme? …
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